Was wir aus dem Blackout in Spanien und Portugal lernen sollten
Eine Einschätzung von Thomas Vogel, zeitgeist engineering GmbH und stellvertretender Vorsitzender der ENERGIEregion Nürnberg e.V.
Der Stromausfall als Symptom eines Systemfehlers
Der großflächige Stromausfall, der Ende April 2025 Spanien und Portugal sowie Teile Frankreichs betraf, war kein singuläres Versagen. Vielmehr offenbarte er nach aktuellen Erkenntnissen eine strukturelle Schwäche, die vielen Fachleuten seit Jahren bekannt ist, aber politisch und regulatorisch oft unterschätzt oder verzögert behandelt wurde.
Die genauen Ursachen werden derzeit noch untersucht. Nach heutigem Kenntnisstand kam es im Süden Spaniens zu einem abrupten Verlust mehrerer großer Erzeugungseinheiten. Fast zwei Drittel der Erzeugung stammten zu diesem Zeitpunkt aus erneuerbaren Quellen — hauptsächlich Wind- und Solarenergie. Diese Technologien speisen zwar klimafreundlich, tragen jedoch keine oder kaum rotierende Massen bei, die früher durch konventionelle Kraftwerke automatisch für Netzträgheit sorgten.
Die Folge: Plötzliche Leistungsänderungen wirken heute unmittelbarer und mit höherer Geschwindigkeit auf das System. Binnen Sekunden kam es zu Frequenzschwankungen, die sich nicht abfangen ließen. Die Übertragungsnetze reagierten mit automatischen Sicherheitsabschaltungen. Der Blackout war nicht allein technisches Versagen, sondern Ausdruck eines Systemkonflikts zwischen alter Infrastruktur und neuer Erzeugungsrealität.
Die physikalische Realität: Kein „neuer Wein in alte Schläuche“
Viele nationale Stromnetze Europas — auch Deutschlands — sind historisch auf planbare, zentrale Erzeugung ausgelegt: Große Kraftwerke, lange Übertragungswege, inhärente Stabilität durch rotierende Massen. Mit dem wachsenden Anteil erneuerbarer Energien ist diese Realität Vergangenheit. Plötzliche Einspeisungen, spontane Ausfälle oder Wetterextreme sind keine Betriebsstörungen mehr, sondern systemimmanent. Die klassische Netzauslegung stößt hier an physikalische und betriebliche Grenzen. Wer versucht, die neue Realität mit den Steuerungsmechanismen der alten Welt zu beherrschen, riskiert Instabilität. Die Formel „neuer Wein in alte Schläuche“ ist nicht mehr nur ein warnendes Bild — sie beschreibt einen großen planerischen Fehler unserer Zeit.
Dezentralität als Kernbaustein im Gesamtsystem
Die Lösung liegt nicht in einer nostalgischen Rückkehr zu Großkraftwerken, sondern im Aufbau eines intelligenten, flexiblen Gesamtsystems. Und hier kommt die Subsidiarität ins Spiel: vom kleinen Quartier bis hin zum gesamteuropäischen Netzverbund — und umgekehrt.
- Quartiere können lokal Strom, Wärme und Mobilität koppeln, Schwankungen puffern und bei Bedarf ins Inselnetz übergehen.
- Regionale Netzcluster gleichen größere Lasten und Erzeugungsschwankungen aus.
- Überregionale Knotenpunkte sichern den internationalen Austausch und bieten Redundanzen.
Subsidiarität bedeutet hierbei nicht nur, Aufgaben von unten nach oben zu skalieren. Sie ermöglicht es auch, dass lokale und regionale Einheiten aktiv zur Systemstabilisierung beitragen: durch flexible Lastverschiebungen, Aufnahme von Überkapazitäten (z. B. Nutzung von Heizstäben oder Wärmespeichern) oder das Freigeben von Kapazitäten durch temporäres Reduzieren von Verbrauchern. Dieses bidirektionale Denken ist die Grundlage eines reaktionsfähigen Gesamtsystems.
Dezentrale, sektorgekoppelte Systeme sind kein Ersatz für Netze, sondern deren flexible Partner. Sie reduzieren die Abhängigkeit von zentralen Strukturen, erhöhen die Reaktionsgeschwindigkeit bei Störungen und ermöglichen es, Stabilisierungsaufgaben subsidiär zu verteilen — lokal, regional und überregional.
Trägheit und Speicher: Neue Antworten auf alte Herausforderungen
Die Frage der Trägheit muss technologisch neu beantwortet werden. Dies umfasst:
- Netzdienliche Speicherlösungen mit Regelreserve-Fähigkeit (nicht nur Pufferspeicher).
- Synchrone Kondensatoren oder Power-to-X-Technologien, die gezielt Trägheit simulieren oder ersetzen.
- Intelligentes Lastmanagement (Demand-Side-Management), das Flexibilität aus Verbraucherseite erschließt.
Die Trägheitsfrage ist lösbar, wenn sie nicht länger als Nebenbedingung betrachtet wird, sondern als zentrales Systemelement.
Zeit und Regulierung: Die wahren Engpässe
Technisch ist der Weg klar. Doch die größten Herausforderungen sind nicht physikalisch, sondern organisatorisch:
- Zeit: Der Aufbau der notwendigen Infrastruktur dauert — von Planung über Genehmigung bis Umsetzung vergehen Jahre. Jedes Zögern erhöht das Risiko, dass sich der Blackout von Spanien auch in Mitteleuropa wiederholt.
- Regulatorische Geschwindigkeit: Die aktuellen Regeln fördern zentrale Versorgung und behindern dezentrale Flexibilität. Förderinstrumente, Marktmechanismen und Genehmigungsprozesse müssen dringend auf die neue Systemarchitektur angepasst werden.
Warten auf „perfekte Lösungen“ ist keine Option. Iterative, pragmatische Schritte sind notwendig, um parallel zur bestehenden Struktur das neue Energiesystem aufzubauen.
Kosten: Betriebswirtschaftlich und volkswirtschaftlich denken
Ja, der Umbau verursacht erhebliche Investitionen. Doch es ist kurzsichtig, nur auf betriebswirtschaftliche Einzelkosten zu schauen. Die volkswirtschaftlichen Kosten eines großflächigen Netzausfalls, von wirtschaftlichen Schäden bis zu Sicherheitsrisiken, übersteigen die Infrastrukturkosten um ein Vielfaches.
Zudem müssen Kommunen und insbesondere Stadtwerke in ihrer Rolle gestärkt werden. Ihnen fallen durch die Systemtransformation immer neue Aufgaben und Kosten zu. Diese müssen über gezielte Förderprogramme sowie erweiterte Vermarktungsmöglichkeiten (zum Beispiel durch Flexibilitätsmärkte und Speichervermarktung) refinanziert werden. Gleichzeitig muss sichergestellt werden, dass für alle Einkommensgruppen die Bezahlbarkeit der Energieversorgung erhalten bleibt.
Dabei sollte aber auch offen kommuniziert werden, dass Versorgungssicherheit und Resilienz ihren Preis haben. Die Transformation ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die faire Lastenverteilung verlangt, ohne neue soziale Brennpunkte zu schaffen.
Prävention durch vorausschauende Investitionen ist nicht nur klüger, sondern wirtschaftlich vernünftiger.
Mein Appell
Der Blackout in Spanien und Portugal war keine Anomalie. Er war das sichtbare Symptom einer Systemtransformation, die bislang zu langsam verläuft.
Politik, Netzbetreiber und Marktteilnehmer müssen jetzt handeln. Es braucht:
- Regulatorische Anpassungen, die dezentrale Flexibilität belohnen.
- Beschleunigte Genehmigungsprozesse für Speicher, Netzausbau und sektorgekoppelte Quartiere.
- Förderung von Flexibilitätsmärkten und neuen Vermarktungsmodellen.
- Unterstützungsprogramme für Kommunen und Stadtwerke.
- Bewusstseinswandel: von zentralem Denken hin zur subsidiären Systemarchitektur.
Die technologischen Lösungen sind vorhanden. Der entscheidende Engpass ist der politische und regulatorische Wille, diese Lösungen endlich zur Breite zu bringen.
Der Text ist eine persönliche Einschätzung von Thomas Vogel, Geschäftsführer zeitgeist engineering GmbH und stellvertretender Vorsitzender der ENERGIEregion Nürnberg e.V.